Nach 2009 reist das Ensemble der Schlossspiele Hohenlimburg, organisiert und finanziert durch den Freundeskreis Hagen-Smolensk, zum zweiten Mal nach Smolensk, um dort Ostrowskij`s „Tolles Geld“ aufzuführen.
Turbulenzen während des Anflugs lassen die siebenköpfige Gruppe doch etwas blass in Moskau landen. Lange wartet man auf die Koffer, aber es geht nichts verloren und Evgenij, rotblonde Haare, groß und mit vielen Sommersprossen im Gesicht, erwartet die Gruppe mit einem kleinen Bus zur letzten Etappe nach Smolensk. Doch die Blechlawinen in Moskau hälten so sehr auf, so dass der Bus erst nach ca. neun Stunden gegen 1 Uhr morgens in Smolensk ankommt.
Hart gegen sich selbst sind alle um zehn Uhr zur ersten Probe auf russischem Boden in den Räumen der Smolensker Humanistischen Universität erschienen. Wie zu hören ist, haben alle Darsteller tolle Gastfamilien, nur Kriszti meldet eine kleine Einschränkung: Ihre Familie hat einen etwas unbefriedigten „deutschen Kurzhaarrüden“, Richie, der ihr nächtens die Kräcker aus den Koffer gegraben hat und sie selbst nach dem Verzehr der Kekse am Hemdsärmel aus dem Bett zerren wollte – sie hat es überlebt. Bei der Probe geht es gleich zur Sache – Roman, der russischen Darsteller des Dieners Wassilij, muss mit den Hagener Schauspielern seine Szenen proben. Kulissen und Requisiten werden ausgesucht und zum Transport zur Spielstätte verpackt.
Der „Schwedische Tisch“ im Restaurant Viktoria wartet schon auf uns, doch mit der ratternden Straßenbahn ist es nicht weit dorthin. Alle sind erfreut ob des tollen Essens. So langsam weicht die Müdigkeit aus den Knochen – viel Kaffee und leckere Törtchen helfen dabei.
Der Fußweg zur Staatlichen Universität Smolensk ist ein erster kleiner Rundgang durch die Stadt – Nikolaijeva, Mandarin Gans, Rathaus, Glinkapark und Dramatheater liegen am Wege. Dario Weberg und Michael Creutz müssen sich noch Hemden für die Aufführungen kaufen.
Rektor Kodin hält uns höchst persönlich die Tür zur Uni auf – Absicht oder Zufall, wer weiss es?
Bühne und Theatersaal sind o.k., aber dann erscheint ein Stellvertreter des Rektor, der uns betreuen soll – sein Markenzeichen: Management bei Helikopter mit Bezügen zum Radfahren (Erl.: kurz Einfliegen, viel Wirbel machen, nach oben buckeln, nach unter trampeln und sich dann wieder aus dem Staub machen). Insbesondere Thomas Mehl hat mit seiner Bärenruhe alles Wesentliche gerichtet und nach kurzer Zeit sind die weiteren Proben konzentriert erledigt. Schon zu diesem Stadium der Reise ist der menschlich-persönliche Zusammenhalt der Theatergruppe unübersehbar – jeder unterstützt jeden!!
Ab 18 Uhr hat das Ensemble eine Vorstellung hingelegt, wie ich sie in Hagen nicht gesehen habe. Nach 24 Stunden ohne ausreichenden Schlaf hat die Gruppe vor den zahlreichen Zuschauern brilliert – die Dialoge stimmen, die Gestik und Mimik sind treffend, die Komik umwerfend und die Dramatik einzelner Szenen erschreckend, so dass das Publikum völlig verdutzt ist, als es plötzlich eine Pause gibt – sie wollen doch sehen wie es weiter geht. Und wie es weiter geht – das Ensemble kann sich noch einmal steigern und verdient sich die stehenden Ovationen der zumeist jungen Zuschauer. Jetzt ist das Ensemble verdutzt, denn mit diesem tosenden Beifall hat es nicht gerechnet. Jeder Darsteller muss einzeln vorgestellt werden und wird durch die nicht gehen wollenden Menschen mit zusätzlichem Applaus bedacht. Das geht unter die Haut!
Danach müssen wir erst verschnaufen und das gelingt perfekt in der „Mandarin Gans“, einem typisch russisch gestalteten Restaurant. Es gibt leckeres zu essen und zu trinken, köstliches sibirisches Bier, interessante Gespräche und das neue Ensemblemitglied, Roman, blieb bis zum Schluss dabei. Pünktlich um 23 Uhr stehen die gastgebenden Familien auf der Matte, um ihre Schäfchen abzuholen – gute russische Gastlichkeit, gepaart mit dem Schutzinstinkt für die Familienmitglieder.
Bis morgen früh am Tjorkin-Denkmal zum Stadtrundgang.
Jana, Natascha und Evgenij erwarten die Gruppe am Denkmal des Dichters, der sich mit seiner Romanfigur unterhält. Fast alle mussten in der Nacht noch einmal mit den Gastfamilien essen – Spezialitäten, die deutschen Gäste könnten ja noch hungrig sein.
Unsere drei Stadtführer/innen geleiten uns zur Stadtmauer und berichten darüber – sie wird gerade für das große Stadtfest 2013 restauriert. Es geht vorbei an der Skulptur „Kinder im KZ“, dem Mahnmal zum ersten Vaterländischen Krieg gegen Napoleon, der ewigen Flamme, dem Rohbau des neuen Puppentheaters Smolensk, dem Riesenrad, der Brücke mit den vielen Schlössern, zum Leninplatz, vorbei am Dramatheater, Frauen bei der Pflege der Blumenbeete in der Stadt -acht bis zehn Menschlein schaufeln in einem Beet herum- und wieder zur Staatlichen Universität.
In einem riesigen vollbesetzten Hörsaal erwarten uns Sprach- und Journalistikstudenten zum Gedankenaustausch. Nachdem die Studenten ihre Zurückhaltung abgelegt haben, entwickelt sich ein lebhaftes heiteres, aber auch ernsthaftes Gespräch und die Studierenden wollen uns gar nicht mehr loslassen, doch unser Schwedischer Tisch wartet bereits seit einer Stunde auf uns.
Nach dem Mittagessen will jeder auf eigene Faust ein paar Kleinigkeiten in den vielen Geschäften einkaufen. Alle werden noch einmal eindringlich gebeten unbedingt vorsichtig die Straßen zu überqueren, denn tags zuvor ist ein Mitglied unserer Gruppe auf einen Zebrastreifen angefahren worden, gottlob ohne ernsthafte Verletzungen. Smolensk erstickt in einer dahin rasenden Autolawine und täglich sehen wir mehrere schwere Unfälle. Seit April 2012 hat die Verkehrsdichte noch einmal sichtbar zugenommen, Regeln scheint niemand zu kennen oder, wenn es sie denn gibt, zu beachten. Anarchie herrscht auf den Straßen und der Fußgänger ist wieder, wie auch noch vor zehn Jahren, Freiwild, wenn keine Polizisten in der Nähe sind. Aber das ist jedem Menschen klar gewesen, der die Stadt seit über zehn Jahren beobachtet, denn an der Infrastruktur hat sich absolut nichts verbessert oder verändert – es gibt nur kleine Schönheitsreparaturen. Einziges Neubauprojekt ist die Brücke über den Dnjepr – unter den Bedingungen deutscher Arbeitssicherheit eine abenteuerliche Baustelle, aber mit den paar Bauarbeitern, die dort werkeln, wird sie wohl zum Stadtfest 2013 nicht fertig. Man fragt sich schon, wohin das viele Geld fließt, das die Stadt angeblich bekommen hat, um sich für das Stadtfest herauszuputzen – bisher ist im Stadtbild nur oberflächliche Kosmetik zu sehen. Man darf gespannt sein, ob wenigsten so viel Geld übrig bleibt, um die sehr spezielle öffentliche Toilette an der Philharmonie zu sanieren.
Elena Kurjanova, die Regisseurin, erwartete die Gruppe bereits zur nächsten Probe und bald drängen sich viele Zuschauer vor dem Eingang. Einige Professoren der UNI sind auch dabei und ein Teil des Ensembles des Kammertheaters, sowie viele Studenten, mit denen wir zuvor diskutiert hatten.
Unter den Ensemblemitgliedern herrscht eine derart gute Stimmung, dass die Dialoge so prägnant formuliert werden, wie man es zuvor noch nicht erlebt hatte. Die Pointen sitzen und das überwiegend russische Publikum ist fasziniert von der Art des Spiels unserer Darsteller. Richard Saringer präsentiert den Wassilkov grandios, Ariane Raspe brilliert als verwöhntes Töchterchen und Peter Schütze als mittelloses Onkelchen Kutschumov. Telatjew wird von Michael Creutz witzig, ernst und tragisch interpretiert, dem Glomov, Dario Weberg, mit seinem Zynismus eine Spitz aufsetzt, auf der Mama, Kriszti Kiss, tanzt, um ihr Töchterchen und sich in den sicheren Ehehafen zu schippern und doch landen sie beide, Mama und Töchterchen, bis auf weiteres bei Babuschka in der Küche auf dem Lande. Blumen, kleine Geschenke und frenetischer, stehender Applaus sind der Dank des begeisterten Publikums. Der Fernsehsender REN-TV hat Filmaufnahmen und Interviews gemacht.
Die Darsteller, die in Smolensk spielten, werden an dieser Stelle mit Fotos gewürdigt – denn sie waren so gut, dass wir keine passenden Worte finden, sondern die Bilder für sich sprechen lassen:
Richard Saringer – Wassilkov:
Ariane Raspe – Lydia:
Michael Creutz – Teltjew:
Kriszti Kiss – Nadjeschda:
Dario Weberg – Glumov:
Peter Schütze – Kutschumov:
Thomas Mehl sorgte gewohnt souverän für Licht und Ton und war ein ruhender Pol bei manchem aufregenden Augenblick!
Anschließend werden die Darsteller von den Gastfamilien nach Hause zum typisch russischen Essen eingeladen – guten Appetit, sagen wir. Eigentlich wollen alle in das Restaurant „Russischer Hof“ –Thomas Mehl nennt es das Märchenrestaurant-, aber nur ein kleiner Kreis, der nicht bei den Gastgebern wohnt, geht noch in dieses Restaurant, man isst leckere Blinis und schaut im riesigen Fernseher noch einen russischen Klassiker mit Yury Nikulin. Um 22 Uhr wird Kriszti von ihrer Gastgeberin abgeholt – pünktlich. Und durch die Dunkelheit der Stadt traben wir nach Hause.
Gleich am nächsten Morgen bringen alle ihre Koffer in den Probenraum der SHU, weil der Bus nach Moskau bereits um 20 Uhr abfahren soll.
Mit einem kleinen Umweg am Haus der Offiziere und an der Stadtmauer entlang, wo Arbeiter in schwindelnder Höhe ohne jede Sicherung werkeln, geht es zur Kathedrale.
Das imposante Gebäude und der noch mehr beeindruckende Innenraum mit der riesigen goldenen Ikonenwand lassen wir gerne auf uns wirken. Am der Smolensker Madonna spenden wir Kerzen, ein jeder für sich und wir stehen lange und andächtig. Kriszti bekommt vor der Kathedrale geweihtes Brot zu essen, denn sie ist noch hungrig. An der Treppe säumen viele sprachkundige Bettler den Weg. Zu Fuß spazieren wir der Straße entlang über den Dnjepr zur Markthalle, ein Muss für jeden Smolenskbesucher, denn wer weiß wie lange diese unvergleichliche Einrichtung noch bestehen wird. Wir kaufen Kleinigkeiten ein und werden von einem Sicherheitsbediensteten angeraunzt, weil wir fotografieren. Aber das stört uns herzlich wenig, insofern haben wir dazu gelernt, der sog. Obrigkeit nicht zu viel Beachtung zu schenken. Den Besuch in der Markthalle werden die Teilnehmer bestimmt nicht vergessen, auch nicht die tausenden Gerüche, die an jeder Ecke auf die Nase lauern. Leider kann man an dieser Stelle diese Düfte nicht vermitteln, dazu muss man schon nach Smolensk reisen!
Auf Schusters Rappen marschieren wir zurück in die Stadt, irgendwo am Wodkamuseum vorbei und kehren in der Leninstraße im Cafe „Samowar“ ein – Tee, Kaffee und kleine Kuchen sind eine wahre Wohltat und plötzlich erscheinen noch Freunde im Cafe. Voll der Eindrücke führen wir sehr intensive Gespräche und die Gruppe rückt noch ein Stück näher zusammen als sie es schon ist – ein Gemeinschaftserlebnis wie diese Reise, erleben nur sehr wenige Ensembles; das Schloss-Spiele-Ensemble zum zweiten Mal.
Die Zeit rast dahin und wir brechen auf zur letzten Station unseres Aufenthaltes in Smolensk, dem Abschiedsessen, das die Gastfamilien im nostalgischen Restaurant „CCCP“ für uns veranstalten. Die große Gastfreundschaft und die zuvorkommenden Umgangsformen lassen sich nicht in Worte fassen.
Toll war`s und die nachfolgenden Bilder sprechen für sich.
Freundschaften wurden vertieft und viele neue Freundschaften sind entstanden. Zwei kleine Jungen werden fleißig Deutsch und Englisch lernen und kommen vielleicht bald mit einem wunderschönen Theaterstück nach Hagen – schau`n wir mal, dann seh´n wir schon!!!
HWE