Wolfgang Borchert: „Draußen vor der Tür“
Text: Dr. Peter Schütze
Kein Zweifel: Dieses Stück, in dem das Leben über den Rand der Verzweiflung zu stürzen scheint, hat überlebt. Noch heute, unter ganz anderen Bedingungen, ist viel von der heftigen Erregung und Erschütterung zu ahnen, die von der Uraufführung ausgegangen ist. Borchert war der erste seiner Generation gewesen, der auf dem Theater seine Stimme wiederfand; er hatte die verzagte Stummheit überwunden. Dabei konnte er, als „Draussen vor der Tür“ am 21. November 1047 in den Hamburger Kammerspielen gezeigt wurde, selbst nicht mehr sprechen; Borchert war tags zuvor, sechsundzwanzigjährig, im Baseler Clara-Spital gestorben, an Leiden, die durch Kriegsdienst, Gefängnis, Ausharren in einer Nazi-Todeszelle unheilbar geworden waren.
Weit über hundert Inszenierungen des Stückes lassen sich allein seit 1957 zählen; über die erste Zeit geben die Archive keine genaue Auskunft. Film und Fernsehen bemächtigten sich des Stoffes; Tourneetheater trugen das Drama durch die Städte. Es erreichte seine Zuschauer nicht nur in der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und der Schweiz; ich habe Aufführungen in Holland und Belgien, in Paris, Warschau, Helsinki und Lissabon verzeichnet gefunden. Seit Mitte der Siebziger Jahre häufen sich die Einstudierungen.
Dieses erstaunliche Echo gilt einem Stück, das, will man seinem Untertitel glauben, „kein Theater spielen und kein Publikum, sehen will“. Doch hat Borchert schon einiges von der Wirkung spüren dürfen, die von seinem einzigen Bühnenwerk ausgehen sollte. Ernst Schnabel, der Chefredakteur des WDR, hatte die Hörspielfassung ins Programm genommen. Die Ursendung konnte Borchert wegen einer Stromsperre in seinem Stadtviertel nicht hören, aber der Widerhall war so stark, daß das Hörspiel in kurzer Frist mehrfach wiederholt werden mußte. Borchert wurde mit Briefen überhäuft; des Andrangs von Besuchern, die Ähnliches erlebt hatten und deren Nerv getroffen war, mußte der todschwache Dichter sich schließlich erwehren. Trotzdem war es keine Koketterie zu meinen, daß das Publikum und die Theater sich dem Werk versperren würden. In einer Szene des Stücks stellt die Hauptfigur, der eben aus Sibirien nach Hamburg heimgekehrte Unteroffizier Beckmann, sich einem Kabarettdirektor vor. Er wird abgelehnt; die Schmerzen der Zeit sollen nicht selber sprechen, sondern mit Spaßmacherei gestillt werden: „Mit der Wahrheit macht man sich nur unbeliebt. Wer will denn heute etwas von der Wahrheit wissen?“
Ein Kritiker, der die Zeit miterlebt hatte, schrieb 1981 nach einer Darmstädter Aufführung: „Daß damals im Chaos zertrümmerter Städte jeder, der den Massenmord überstanden hatte, nur an sich dachte, denken mußte, war Realität.“ Ein „Moralist“ wie Beckmann werde in dieser Wirklichkeit zur seltsamen Gestalt, zur „tragikomischen Figur“. Auch der Literaturgeschichtler Karl S. Guthke sah den tragikomischen Zug des Stückes, das er im Übrigen als ein „ziemlich infantiles, von Selbstbemitleidung triefendes Zeitdokument einer enttäuschten Generation“ abtat. Das harsche Urteil teilt sicher mehr über den Geist und die politische Abwehrfähigkeit dieses literarischen Richters mit als über Borchert, und vielleicht war es auch das Klima solcher Verdrängung, das der „enttäuschten“, fassungslosen Generation den Mund verschlossen hatte – den Borchert nun auftat. Freilich, „das Leben geht weiter“, und , wer überleben will, macht es sich am leichtesten, wenn er Moral Moral sein läßt und rasch zu den praktischen Tagesdingen übergeht – wie der Oberst in Borcherts Stück: Befehl war BefehI und wer dem skrupuIös nachhängt, macht sich nur die Zukunft schwer. Mit dem Vergessen und Verdrängen hatte Borchert gerechnet; dagegen stemmt sich Beckmann. „Draußen vor der Tür“ ist keine Abrechnung, Beckmann war kein Ankläger. Er stellte in seiner Hoffnungslosigkeit peinigende Fragen an die Welt, vielleicht unbeantwortbare, weil seine Situation ausweglos schien; denn „das Leben selbst ist die Antwort“, wie Borchert in einem Brief‘ schrieb. Beckmann verschaffte denen eine Stimme, die nicht einfach vergessen und verdrängen konnten.
In den Gedächtnis-Veranstaltungen zum 8. Mai ist wieder die Frage erhoben worden, ob das Kriegsende als „Kapitulation“ oder als „Befreiung“ begriffen werden müsse. Diese Alternative selbst ist ein Versuch, bloß historisch zu objektivieren; die Fragestellung bereits distanziert sich von der Erlebniswucht des einzelnen Menschen. Aber auch hier hat Geschichte ihren Ort, zwischen den Quadern politischer Erkenntnisse und Entscheidungen. Was denn, wenn die am eigenen Leib, mit eignen Sinnen erfahrene Vergangenheit des Krieges sich wie ein Alp auf die Gegenwart legt? Wenn x man sich, wie der Unteroffizier Beckmann, am Tode von elf Soldaten schuldig fühlt, weil man „Verantwortung“ übernommen und einen Durchhalte-Befehl ausgeführt hat?
Lebensnotwendig freilich ist das einfache positive „Ja“, das im Stück Beckmanns alter ego, der „Andere“ sagt, die Ermunterung weiterzuleben, weiterzumachen. „Draußen vor der Tür“ ist kein Plädoyer für den Selbstmord. Es wird, wie in Borcherts letztem Manifest NEIN gerufen, weil zu viele schon wieder Ja sagen. Die Jas, das Lebenwollen, hindern den Verzweifelnden an der Selbstvernichtung. Die EIbe spuckt den Selbstmörder wieder aus; ein Mädchen nimmt den Triefenden mit nach Hause. Es gibt Möglichkeiten für Beckmann, doch das Stück Iäßt keine Menschlichkeit gelten, die die schreienden Zweifel, die die nächtlichen Traumqualen als bloße Schwäche abtut. Nein! – damit das Ja nicht pausbäckig wird. Die Frage „Wie können wir leben“, vielleicht die Grundfrage der gesamten Dramatik, wie können wir über den Gräbern von Hekatomben von Opfern noch leben, bleibt als Problem bestehen. Borchert beharrt darauf, und er reicht sie uns weiter, über die Wohlstandsjahre hinüber. Da ist mehr als nur die Nachkriegssituation angesprochen; ihre besondere Unerträglichkeit allerdings macht, daß Beckmanns verhallende Fragen sich an die Welt im ganzen richten, an eine Welt, deren Gott versagt haben muß: ein alter hilfloser Mann, so tritter im Stück auf, schmächtig gegenüber dem fett gewordenen Tod, dem „Beerdigungsunternehmer:‘ und „Straßenkehrer“ (dessen Bild als Müll-Beseitiger das ‚Wirtschaftswunder‘ und seine Nachtseiten visionär vorausnimmt).
Ein Heimkehrer kehrt heim, kriegs-beschädigt, mit seiner Gasmaskenbrille eine groteske Figur, fremd in der neu sich etablierenden Welt. Er kommt heim und findet kein Zuhause. Die Wohnung seiner Frau ist bereits von einem anderen Mann besetzt. Andere Türen öffnen sich durchaus, man ist wohl bereit, ihm zu helfen, aber nicht in seinem Sinn. Hinter den Türen ist Zukunft. Aber was ist das für eine Zukunft, hinter der die Türen zu sind? Die Tür ist ‚“die Schwelle zwischen Eingesperrtsein und Ausgesperrtsein. Beckmann ist drinnen aus-, draußen eingesperrt. Er kommt nichts ins Heimische, ein Gefangener freilich auch seiner selbst, der Selbstzufriedenheit nicht finden kann. Peter Rühmkorf spricht in seiner Borchert-Monographie von einem „im Grunde romantiscl1en Ausnahmezustand“ und schreibt über Beckmann, daß ihm der Friede nicht geraten sei, „weil er an der eigenen Friedlosigkeit scheitert.“ Es geht hier allein um das Subjekt, das in Gefahr gerät sich aufzugeben, gerade weil es sich, seine Ansprüche nicht aufgeben will; der Moralist tat nichts anderes, als dem neuen Phönix die Flügel mit der Gewissensfrage wieder anzusengen. Auf diese Weise ist Borchert zum Sprecher der Jugend von 1945 geworden, die vaterlos zwischen den Ruinen der Häuserzeilen und einer zusammengebrochenen Überideologie herumirrte und neue Orientierung suchte.
Nicht die an expressionistischen Vorbildern wie Tollers „Hinkemann“ geschulte Form des Dramas, nicht die Technik der Stationen, die durch eine einzelne Figur – Beckmann – verbunden werden, machte den Erfolg des Stückes aus. Formal, ästhetisch interessant ist allenfalls die musikalische Struktur, die die Sprache mit ihren Motivverkettungen und Wiederholungen durchdringt und sich in einem Traumfinale, in dem alle Stimmen nochmals Revue passieren, erfüllt: In der Musik, nicht in der Dramaturgie des Werkes zündet die Erregung, die das Stück mitteilt. Die Kraft des unmittelbaren Erlebens wirkt in der Beckmann-Figur; hinter ihr treten die Schwächen des Stücks, die altmodische Bauart, der allegorische Spuk zurück.
Daß hier das Geheimnis von „Draußen vor der Tür“ stecke, daß es nur „über den unmittelbaren Eindruck“ funktioniere, auch über die Zeiten hinüber, sagt auch Hans Quest, der Beckmann des Hörspiels und der Uraufführung. Ihm hatte Borchert das Stück gewidmet, nachdem er die Sendung gehört hatte; und die Rolle und die Begegnungen mit Borchert haben Quests Leben mitgeprägt. Auch er hatte, wie Borchert, 6 Jahre Krieg hinter sich; und was dieser Autor schrieb, hallte im Schauspieler sofort wieder: „Das Stück“, sagte Quest zu mir, „fiel aus mir raus.“ Die Xylophon-Vision, dies grause Traumbild vom General, der auf den Knochen der Kriegstoten aufspielt, hält Quest für eine „Jahrhundertdichtung“. Jeden gehe an, was Borchert erlitten habe und in diesem seinem „Requiem“ schreiben mußte. Das Stück sei einzig „vom Blatt“ zu spielen, erlaube keine Konzeptveränderungen; es lebe „aus der Kraft des Wortes“ und verlange nach knappen Bühnentiteln: Licht, Schrägen, Prospekte. Der Erfolg sei abhängig davon, „wie glaubhaft ein Schauspieler Beckmann personifiziert“. Die Sprache fließe von einem Satz in den nächsten; die Impulse des Stromes seien „Fieberstöße“. „Es muß gespielt werden aus dem heißen Herzen“ – eine Wiederbelebung als Lesung, die mir gegenüber eine junge Regisseurin des Schauspielhauses für möglich hielt, da nur das Dokument zu retten sei, lehnt Quest lebhaft ab. Alle Stilisierung sei verboten. Wer sich aber auf die Identifizierung einlasse, werde immer wieder erfahren, welche Lebenskraft das Stück 1n sich bewahre: „Aus dem innersten Grund kommt so viel Wahres und Unverrückbares, und das hält sich.“
1972 hatte Quest das Stück für ein Schweizer Tourneeunternehmen inszeniert, mit Uwe Friedrichsen als Beckmann. Friedrichsen erinnert sich daran als an seine „vielleicht erfolgreichste“ Gastspielreise; ganze Schulklassen hätten sich in seine Garderobe gedrängt und, tief betroffen, Fragen gestellt.
Außer Quest und Friedrichsen haben sich noch viele gute Schauspieler den Beckmann zueigen gemacht; Robert Graf, Karl John, Heinz Reincke und Hannes Messemer sind darunter. Rudolf Noelte inszenierte das Stück 1957 mit Paul Edwin Roth im Fernsehen. Eine allerdings fragwürdige Filmfassung entstand bereits 1949 unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner, der auch die Uraufführung geleitet hatte. Der Titel „Liebe ’47“ gibt bereits die Tendenz der Veränderung an. Der Heimkehrer Beckmann will gleichzeitig mit einer jungen Frau in die Elbe steigen; beide halten sich gegenseitig am Leben; die Figur des „Mädchens“ ist zur Hauptrolle aufgewertet worden (Hilde Krahl-Liebeneiner). Von der Rahmenhandlung aus werden die Stationen des Stücks als Retrospektiven hochgeholt, aufgeschwemmt durch klischeehafte biographische Erweiterungen. Die Traumsequenzen sind heute kaum mehr erträglich. Allein Karl John, der Darsteller des Beckmanns, der den Nazis selber nur um Haaresbreite entkommen war, vermittelt den Ausdruck des originalen Stückes. Auf seine bangen, zerrenden Fragen gab Lieheneiner die Antwort: Beckmann braucht eine Beckfrau.
Über den Wert der individuellen Liebe war Borchert sich sehr im klaren, aber er hob seine Fragen darin nicht auf. Und es sind gerade die Fragen, die das Stück, über alle Heimkehrer-Problematik hinaus, am Leben erhalten. Das Stück ist nicht da, seine Zuschauer zu trösten, sondern ihren eigenen Zweifel wachzuhalten und ihr Mißtrauen in die Würde der Welt nicht seelischer Verfettung aufzuopfern. Auch in unserer weltpolitischen Lage gibt es Anlässe genug, nach dem Sinn zu forschen. Diesen Drang transportiert „Draußen vor der Tür“ über die Jahre, und nicht nur für die jeweilige Jugend-Generation.